Patientenorientierte Veränderungsmessung: Gesundheitsbewertungen und die Beurteilung der Teilhabe-Relevanz von Behandlungseffekten durch chronisch Kranke (Projekt POEM)
Das Projekt befasste sich mit der Frage, wie der Erfolg der Behandlung chronisch kranker Patientinnen und Patienten orientiert an den Vorstellungen und Erfahrungen der Patienten erfasst werden kann. Zu diesem Zweck wurde ein Fragebogen entwickelt, in dem die Patienten zu Beginn ihrer Behandlung angeben können, welche Gesundheitsverbesserungen sie sich durch die Therapie wünschen. Im Anschluss an die Behandlung wurde erhoben, welche Konsequenzen die bewirkten Veränderungen für den Alltag des jeweiligen Patienten haben. Mit Hilfe eines solchen Fragebogens, der nach Abschluss des Forschungsprojekts in Kliniken routinemäßig eingesetzt werden könnte, wäre es möglich, Patienten langfristig noch mehr als bisher an der Planung und Erfolgsbewertung ihrer Therapie zu beteiligen. An dem Projekt nahmen Patientinnen und Patienten mit drei verschiedenen Erkrankungen teil: Brustkrebs, chronische Herzkrankheiten, chronische Rückenschmerzen.
Hintergrund und Ziele
Allgemeine Entwicklungen hin zu einer patientenzentrierten Gesundheitsversorgung haben sich auch auf methodische Forschungsbereiche wie die Veränderungsmessung ausgewirkt und führen zu der Forderung, dass es – insbesondere bei chronischen Erkrankungen – der individuelle Patient sein sollte, der die Bedeutung seiner gesundheitlichen Veränderung bewertet. In dem Projekt „Patientenorientierte Veränderungsmessung: Gesundheitsbewertungen und die Beurteilung der Teilhabe-Relevanz von Behandlungseffekten durch chronisch Kranke“ wurde eine Konzeption der patientenorientierten Veränderungsmessung entwickelt: das so genannte POEM-Konzept. Das Konzept soll das übliche Vorgehen bei der Bestimmung von Interventionseffekten nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen, indem es durch zusätzliche Fragen und Auswertungen Aspekte der Individualisierung und der patientenseitig bestimmten Signifikanzbeurteilung in das Erhebungsdesign einführt. Das POEM-Konzept sieht folgende drei Arbeitsschritte vor:
- Die Erfassung der patientenseitigen Gesundheitsbewertungen vor der Intervention, d.h. die Erhebung von Patientenpräferenzen bezüglich möglicher Gesundheitsverbesserungen,
- Die Erfassung der Teilhabe-Relevanz der erlebten Veränderungen nach der Intervention,
- Die Auswertung und Rückmeldung der an den Gesundheitsbewertungen gewichteten Effekte sowie der Teilhabe-Relevanz.
Bei der Auswertung wurden zudem verschiedene inhaltliche Fragestellungen, die die Bedeutung der Patientenorientierten Veränderungsmessung empirisch analysieren, untersucht.
Das Projekt endete nach gut 3-jähriger Laufzeit zum 28.02.2011.
Konzeptionelle Grundlagen der Patientenorientierten Veränderungsmessung:
Das Instrumentarium wurde patientenorientiert in qualitativen Vorstudien (Patientenfokusgruppen, kognitive Pretests) erarbeitet. Dabei wurden verschiedene Möglichkeiten der Operationalisierung für Gesundheitsbewertungen (Visuelle Analogskala, Willingness-to-Pay Methode, Rating-Skala, Ranking-Methode) und Teilhabe-Relevanz-Urteile auf Verständlichkeit und Akzeptanz geprüft. Anschließend wurde das Konzept in einer quantitativen Studie in drei Indikationen geprüft. Dazu wurden im Rahmen einer prospektiven Studie mit drei Messzeitpunkten (Reha-Beginn, Reha-Ende, 6 Monate nach Reha-Ende) Daten an N=312 Patientinnen mit Brustkrebs, an N=328 Patienten mit chronisch-ischämischer Herzkrankheit sowie an N=189 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen erhoben. Ein systematischer Rückmeldemodus ermöglicht die Rückmeldung der an den Gesundheitsbewertungen gewichteten Behandlungs-Effekte sowie der Teilhabe-Relevanz. Die Auswertungen können einzelfall- bzw. gruppenbezogen erfolgen.
Erfassung der Gesundheitsbewertungen vor der Intervention
Für alle in der Studie interessierenden und erfassten Ergebnisbereiche (z.B. Mobilität, Schmerzen, emotionales Befinden) wird zu Behandlungsbeginn erfasst, welchen Nutzen der einzelne Patient mit einer diesbezüglichen Gesundheitsverbesserung verbindet. Unsere im Rahmen des Projekts durchgeführten Studien führten zu dem Ergebnis, dass sich für die Erfassung von Gesundheitsbewertungen insbesondere eine VAS und eine Ranking-Aufgabe anbieten. Bei der VAS-Methode werden die Rehabilitanden gebeten, auf einer Linie, die eine Skalierung von 0 bis 100 aufweist, ihren jetzigen Gesundheitszustand sowie verschiedene Gesundheitsszenarien (für jeden relevanten Ergebnisbereich eine) mit einem durch die Rehabilitation möglicherweise erreichbaren, verbesserten Gesundheitszustand einzuschätzen. Bei der Ranking-Aufgabe sollen die Befragten die Ergebnisbereiche bezüglich ihrer subjektiven Wichtigkeit in eine Rangreihe stellen. Wichtig erscheint, dass die Gesundheitsbewertungen inhaltlich korrespondierend zu den in der Studie erfassten End-punkten erhoben werden, damit beide aufeinander beziehbar sind.
Erfassung der Teilhabe-Relevanz der erlebten gesundheitlichen Veränderungen
Um den für den individuellen Patienten in seinem Alltag erlebten Nutzen einer Veränderung abbilden zu können, wird der Patient nach der Intervention gefragt, 1. ob er bezüglich der relevanten Ergebnisbereiche überhaupt eine erkennbare Verbesserung erlebt hat und – wenn ja – 2. wie sehr diese Verbesserung seine Teilhabe im Sinne des Zurechtkommens in Alltag konkret verbessert hat. Während die Gesundheitsbewertungen also vor der Behandlung die Wichtigkeit bzw. den antizipierten individuellen Nutzen eines möglichen Behandlungsziels (z.B. Schmerzreduktion) abbilden, erfasst das Teilhabe-Relevanz-Urteil den nach der Intervention tatsächlich erlebten Nutzen für die individuelle Teilhabe. Mit dem Urteil zur Teilhabe-Relevanz werden wahrgenommene Teilhabeverbesserungen erfasst, die der Patient auf behandlungsbedingte Veränderungen in basalen Bereichen (Körperstrukturen, Körperfunktionen, elementare Aktivitäten) zurückführt.
Ergebnisse zu psychometrischen Kennwerten, deskriptiven Ergebnissen sowie den untersuchten inhaltlichen Fragestellungen zur Bedeutung der Patientenorientierten Veränderungsmessung finden sich in den unten aufgelisteten Projektpublikationen.
Rückmeldung der gewichteten Behandlungseffekte und der Teilhabe-Relevanz
Im Projekt wurde ein mögliches Gewichtungsschema entwickelt: Je wichtiger dem Patienten ein Gesundheitsbereich und je höher der Effekt in diesem Ergebnisbereich (gemessen mit etablierten Assessmentinstrumenten) bzw. die Teilhabe-Relevanz des Effekts, umso höher ist die Gesamtbewertung des Behandlungserfolgs zu veranschlagen. Die so gewichteten Gesundheitsverbesserungen liefern die Information, in welchen Bereichen präferierte Gesundheitsverbesserungen (gemessen an Effektstärken und dem Urteil zur Teilhabe-Verbesserung) auch tatsächlich erreicht wurden. Optimal ist es, wenn in einem dem Patienten sehr wichtigen Bereich hohe individuelle Effektstärken und eine deutliche Teilhabe-Verbesserung erreicht wurden. Besonders kritisch ist es, wenn in einem dem Patienten sehr wichtigen Bereich weder Effekte bei der indirekten Veränderungsmessung mit Outcome-Instrumenten noch Verbesserungen der wahrgenommenen Teilhabe erreicht werden.
Empfehlungen
Für Forscher, die einen quantitativen Forschungsansatz mit Erfassung der Veränderung des Gesundheitszustands von chronisch Kranken realisieren und dabei das POEM-Konzept umsetzen möchten, können zusammenfassend folgende Empfehlungen gegeben werden: Bezogen auf die jeweiligen, in der Studie interessierenden Ergebnisbereiche (die in der Regel den Skalen der eingesetzten Outcome-Instrumente entsprechen werden) sollten Items zur Gesundheitsbewertung (z.B. Visuelle Analogskala oder Ranking-Aufgaben) und Items zur wahrgenommenen Teilhabe-Relevanz konstruiert werden. Empfehlenswert ist die Durchführung eines qualitativen und/oder quantitativen Pretests zur Bestimmung basaler methodischer Gütekriterien dieser Items (z.B. Verständlichkeit, Retest-Reliabilität). Die Items zur Gesundheitsbewertung sollten dem Patienten zum Zeitpunkt vor der Intervention, die Items zur Teilhabe-Relevanz nach der Intervention vorgelegt werden. Mit den von den Autoren beschriebenen Auswertungsschritten können dann – sowohl auf Individual- als auch auf Gruppenebene – die üblichen Analysen um patientenorientierte Auswertungen ergänzt werden, bei denen die Bewertung der erzielten Effekte um eine an den Präferenzen und Erfolgswahrnehmungen des Patienten gewichtete Analyse ergänzt wird. Letztlich wird damit das Ziel verfolgt, eine „Triangulation“ verschiedener Sichtweisen zu erreichen, die - basierend auf verschiedenen Bewertern (Patient, Behandler, u.U. aber auch Angehörige und Leistungsträger) - eine ausgeglichene und umfassende Beurteilung des Erfolgs einer Intervention abbildet.
Aktuelle Projektinformationen und eine Liste der teilnehmenden Kliniken finden Sie unter:
www.aqms.de
Projektveröffentlichungen
Schriftpublikationen
- Farin, E. & Meder, M. (2010). Personality and the physician-patient relationship as predictors of quality of life of cardiac patients after rehabilitation. Health and Quality of Life Outcomes, 8: 100
- Farin, E. & Nagl, M. (online first). The patient-physician relationship in patients with breast cancer: descriptive results and influence on quality of life after rehabilitation. Quality of Life Research. http://dx.doi.org/10.1007/s11136-012-0151-5
- Farin, E. (2008). Patientenorientierung und ICF-Bezug als Herausforderungen für die Ergebnismessung in der Rehabilitation. Rehabilitation, 47, 67-76.
- Farin, E., Nagl, M. (2011). Patient-oriented outcome measurement in rehabilitation: Conceptual basis and empirical evidence. International Journal of Rehabilitation Research, 1 (4), 696-704.
- Meder M. & Farin, E. (2011) Gesundheitsbewertungen bei Patienten mit chronisch-ischämischer Herzkrankheit. Die Rehabilitation, 50, 522-530.
- Meder, M. & Farin, E. (2009). Akzeptanz und Verständlichkeit verschiedener Methoden der Gesundheitsbewertung bei chronisch Kranken: Willingness to pay, visuelle Analogskala und verbale Ratingskala. Gesundheitswesen, 71(11), e1-e10.
- Nagl, M. & Farin, E. (2011). Die Entwicklung eines Instruments zur Erfassung der Teilhabe-Relevanz von Behandlungseffekten bei chronisch Kranken: Retest-Reliabilität und deskriptive Ergebnisse. Die Rehabilitation, 50, 379-389.
- Nagl, M. & Farin, E. (in press). Response shift in quality of life assessment in patients with chronic back pain and chronic ischaemic heart disease. Disability and Rehabilitation. Online first: http://dx.doi.org/10.3109/09638288.2011.619616
- Nagl, M., Farin, E. (2012). Congruence or discrepancy? Comparing patients' health valuations and physicians' treatment goals for rehabilitation for patients with chronic conditions International Journal of Rehabilitation Research, 35(1), 26-35.
- Farin, E., Nagl, M. (2011). Patient-oriented outcome measurement in chronic diseases: Conceptual basis and empirical evidence. International Journal of Person Centered Medicine, 1 (4), 696-704.
Tagungs-/Kongressbeiträge
- Farin E, Kriesch M: Patientenorientierte Veränderungsmessung: Akzeptanz und Verständlichkeit verschiedener Methoden zur Erfassung von Gesundheitsbewertungen German Medical Science GMS Publishing House, 2008; P5.2 (Deutscher Kongress für Versorgungsforschung vom 17.10.08 in Köln, DNVF)
- Farin E, Meder M: Welche Methode empfiehlt sich zur Erfassung von Gesundheitsbewertungen (health valuations) chronisch Kranker? DRV Schriften, 2010; 88: 222-224 (19. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium/08.03.2010 in Leipzig/Deutsche Rentenversicherung Bund), Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg)
- Farin E, Nagl M: Konzeptionelle Grundlagen einer patientenorientierten Veränderungsmessung: Das POEM-Konzept Gesundheitswesen, 2011; 73 (8/9): 553 (Kongress der DGSMP und der DGMS in Zusammenarbeit mit dem MDK/Bremen/DGSMP, DGMS, MDK).
- Farin-Glattacker E, Nagl M: Die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung für die Lebensqualität nach einer onkologischen Rehabilitation DRV-Schriften, 2011; 93: 403-404 (20. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium/ 14.-16.3.2011 in Bochum/ DRV Bund und DRV Knappschaft-Bahn-See), Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg).
- Kriesch M, Farin E: Willingness to pay als Methode zur Erfassung von Patientenpräferenzen in der Ergebnisbewertung: Verständlichkeit und Akzeptanz DRV-Schriften, 2009; 83: 95-97 (18. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium, vom 10.03.2009 in Münster, Deutsche Rentenversicherung Bund), Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg)
- Nagl M, Farin E: Patientenorientierte Veränderungsmessung: Die Stabilität der von chronisch Kranken wahrgenommenen Teilhabe-Relevanz einer gesundheitlichen Veränderung Monitor Versorgungsforschung, 2010: 43 (9. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung/Bonn/DNVF 01.10.2010)
- Nagl M, Farin E: Response shift in quality of life assessment in patients with chronic back pain and chronic ischemic heart disease J Rehabil Med, 2011; 43 (9): 846 (2nd Baltic and North Sea Conference on Physical and Rehabilitation Medicine/Vilnius, Litauen/Baltic and North Sea Forum for Physical and Rehabilitation Medicine (BNF/PRM))
- Nagl M, Farin-Glattacker E: Patientenseitige Gesundheitsbewertungen und arztseitige Zielfestlegungen in der Rehabilitation: Übereinstimmung und Diskrepanz. DRV-Schriften, 2011; 93: 147-148 (20. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium/ 14.-16.3.2011 in Bochum/ DRV Bund und DRV Knappschaft-Bahn-See), Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg)
- Nagl, M., Farin, E: Teilhabe-Relevanz-Bewertungen als zentrales Konzept einer patientenorientierten Veränderungsmessung bei chronisch Kranken. Vortrag bei der 26. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neuropsychologie, 22.-24. September in Aachen
- Schulz M, Nagl M, Farin E: Einflussfaktoren der Akzeptanz eines Patientenfragebogens zur Lebensqualität Arzneimittelversorgung: Qualität und Effizienz. Abstracts, 2011; 2011: 53-54 (10. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung/Köln/Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung und Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie), Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung und Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie (Hrsg).
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